
Obwohl ich meinen Teilnehmer*innen immer sage, dass eine Haltung nicht lehrbuchmäßig aussehen, sondern sich von innen "richtig" und gut anfühlen sollte, kann ich mich auch nicht davon freisprechen, dass ich mich beim Praktizieren (vor allem beim Unterrichten) sehr von außen beobachte - und bewerte. Es gibt ein paar Haltungen, die ich deswegen lange Zeit gar nicht gern unterrichtet habe, weil ich mich fragte, ob ich wie eine "gute Lehrerin" aussehe, wenn ich es nicht schaffe, hier eine einigermaßen "professionelle" Ausrichtung hinzubekommen. Was für eine Erleichterung war es da, im Yin Yoga- und Anatomie-Teachertraining bei Markus Henning Gieß intensiv in Hinblick auf den individuellen Knochenbau geschult zu werden!
Bislang hatte ich überall nur gelernt, wie ein Skelett aussieht, wie die Haltungen auszusehen haben und im Yogaunterricht manchmal erlebt, wie mir Lehrer*innen aufmunternd sagten, dass ich nur lange genug üben muss, um XY zu können. Ich habe instinktiv gespürt, dass ich mir das in meinem Körper null vorstellen kann, aber andere haben es ja auch geschafft, also muss ich vielleicht einfach dran bleiben? Vielleicht kennst du das. Solche Aussagen oder der innere Antreiber, der dir suggeriert, dass du halt einfach nicht genug dehnst oder übst und dass es deine "Schuld" ist, wenn du nicht da ankommst, wo du ankommen willst. Heute weiß ich, was für ein Quatsch das ist.
Gleichzeitig fühle ich mich mit dem Wissen auch bestätigt darin, meinen Teilnehmer*innen in der Ausrichtung ihrer Haltung (bis auf ganz wenige Ausnahmen, mit denen sie sich vielleicht wirklich auf Dauer schaden könnten) ihre Freiheit zu lassen. Nur weil eine Haltung auf dem Papier auf eine bestimmte Weise aussieht, muss sich das noch lange nicht in jedem Körper stimmig anfühlen und auch nicht für jeden Körper gleich gut sein. Und solange ich nicht in einer 1:1-Situation bestimmte Tests in Hinblick auf die Beweglichkeit der Gelenke machen kann, kann ich einfach nicht wissen, wie der Knochenbau dieser Person ist.
Ich bin mit diesem Wissen in meiner eigenen Praxis viel freier geworden. So fühlt es sich für mich zum Beispiel total schief an, in der Berghaltung die Füße parallel zu stellen. Offenbar sind meine Hüftpfannen und/oder Oberschenkelknochen einfach nicht auf beiden Seiten gleich. Wenn der rechte Fuß etwas nach außen gedreht ist, fühlt es sich wohlig und frei an in beiden Hüften. Würde ich in eine Klasse gehen, in der viel Wert auf Alignment gelegt wird, würde ich hier vielleicht korrigiert werden. Aber wofür denn? Damit es "richtig" aussieht, sich für mich aber "falsch" anfühlt?
Ich möchte dich ermuntern, auch freier zu werden. Nach innen zu lauschen, um zu erspüren, wie sich bestimmte Haltungen für dich "richtig" anfühlen und dich nicht an Bildern zu orientieren, die du davon gesehen hast. Abgesehen davon, dass sich deine Yogapraxis damit bestimmt viel besser anfühlt, macht dich dieses Wissen auch frei davon, dich (unnötigerweise!) mit anderen zu vergleichen, die "mehr" können als du.
In meinen Yin Yoga-Klassen habe ich besonders viel Raum, dich darin anzuleiten, zu erspüren, ob du dich in bestimmten Haltungen noch im Bereich einer Dehnung deiner Muskeln oder deines faszialen Gewebes befindest, oder ob es dein Knochenbau ist, der dich in der Haltung begrenzt. Du wirst es dir schon denken: Bei letzterem kannst du dich noch so sehr anstrengen, noch so lange üben, noch so verbissen dehnen - da wird sich nichts verändern. Also bleib neugierig auf dich und freundlich gegenüber deiner Einzigartigkeit!
Falls du mehr zu dem Thema lesen möchtest, findest du hier einen Link zu einem Artikel aus einem Yoga Aktuell Anatomie Spezial (das PDF öffnet sich, wenn du auf "Weiterlesen..." klickst). Absolut lesenswert! Beim Betrachten der Fotos wird klar: Wir sind nicht alle gleich. Also kann Yoga auch nicht für jeden gleich sein.
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